Rüdiger Rossig | Journalist | Novinar

Planlos in Pristina

Europa muss endlich erkennen, dass es auf dem Balkan zwei Protektorate unterhält. Stattdessen wiederholt es im Kosovo die Fehler, die es schon in Bosnien gemacht hat | Von Rüdiger Rossig

Von außen betrachtet scheint es, als nähme Europas jüngster Staat Gestalt an. Gerade hat das Parlament in Pristina den Entwurf für eine neue Verfassung angenommen, die am 15. Juni in Kraft treten soll. Im Kosovo selbst jedoch ist von Aufbruch nicht viel zu merken. Trotz der Milliarden, die seit Kriegsende 1999 in die Region geflossen sind, ist sie nach wie vor das Armenhaus Europas. Die Mehrheit der Bevölkerung lebt von Almosen. Die wenigen Arbeitsplätze, die es gibt, hängen meist direkt oder indirekt am Tropf der internationalen Organisationen.

Korruption und Kriminalität grassieren sowohl unter den Mitarbeitern der UN-Verwaltung, die seit 1999 im Kosovo regiert, als auch unter den Einheimischen. Teils funktionieren die Gerichte nicht, teils werden ihre Anordnungen nicht befolgt. Ein Boom ist allenfalls in der Schattenwirtschaft erkennbar: etwa beim nicht genehmigten Hausbau oder beim Handel mit geschmuggelten Waren.

Wenig besser sieht es in Bosnien und Herzegowina aus. Angesichts der Tatsache, dass dieser Teil Exjugoslawiens schon seit 1996 (!) unter internationaler Verwaltung steht, müsste das Land heute ein Modell für alle Nachbarstaaten sein. Doch das Gegenteil ist der Fall: das in die "Serbische Republik" und die muslimisch- kroatische "Föderation" geteilte Bosnien ist und bleibt in sozialer, ökonomischer und politischer Hinsicht ein Albtraum. Hauptgrund für die Stagnation ist, dass die lokalen Politiker selbst bei Kleinigkeiten keinen Konsens finden. Und daran sind die Helfer aus dem Westen, vor allem aus Europa, mitschuldig.

Das Friedensabkommen von Dayton hat 1996 in Bosnien zur Aufteilung der politischen Macht entlang ethnischen Linien geführt. Kleinstaatstrukturen wurden nicht nur stabilisiert, sondern regelrecht gefördert. Finanziert mit westlichem, in den meisten Fällen europäischem Geld hat das 4,5-Millionen-Einwohner-Land heute mehr Mandatsträger pro Kopf als jeder andere Staat in Europa. Und diese blockieren jede Reform eines Systems, von dem sie leben.

Die EU hätte aus der bosnischen Dauerkrise Konsequenzen für das Kosovo ziehen können. Doch statt einer gut durchdachten, planmäßigen Anstrengung zum Aufbau eines modernen Gemeinwesens droht im Kosovo der aus Bosnien bekannte ethnonationalistische Dauerzwist, der von schlecht koordinierten ausländischen Helfern mühselig verwaltet wird. Die EU ist auf ihre neue Aufgabe schlecht vorbereitet. Erst kurz bevor das Kosovo seine Unabhängigkeit erklärte, nahm "Eulex" - die europäische Mission zur Unterstützung beim Aufbau eines Rechtsstaats im Kosovo - überhaupt Form an. Mittlerweile sind die ersten EU-Helfer in Pristina eingetroffen. Unklar ist jedoch, ob die rund 2.000 Mitarbeiter der EU ihre UN-Kollegen im Kosovo ablösen oder lediglich unterstützen sollen. Der Konflikt zwischen den beiden internationalen Organisationen sorgt bereits für böses Blut. 17 Jahre nach Ausbruch der Jugoslawienkriege macht die EU den Eindruck, als sei sie eben gerade auf dem balkanischen Schauplatz eingetroffen. Dabei ist schon lange klar, dass der Kosovo-Einsatz auf Europa zukommt.

Es besteht auch kein Zweifel, dass die EU auf dem Balkan prinzipiell erfolgreich sein könnte. Schließlich kann sie auf qualifiziertes, erfahrenes Personal zurückgreifen. Inzwischen gibt es ein breites Spektrum an Südosteuropa-Experten, die bestens mit Geschichte, Kultur, Politik und Wirtschaft der Region vertraut sind. Umgekehrt sind auch die meisten Menschen im Kosovo Europa zugewandt: Viele, besonders die Jüngeren, haben die Zeit der Balkankriege dort als Flüchtlinge verbracht und die Sprachen gelernt. Gleiches gilt für ihre bosnischen Nachbarn.

Dass diese Region nach wie vor nicht vom Fleck kommt, liegt vor allem daran, dass die EU bis heute keine klare Vorstellung davon hat, wohin diese sich letztendlich entwickeln soll. Zwar herrscht seit langem Konsens darüber, dass es einer Art Marschallplan bedürfte, um den Balkan auf EU-Niveau zu hieven. Der 1996 gegründete Stabilitätspakt für Südosteuropa hat mittlerweile 25 Milliarden Euro nach Südosteuropa gepumpt. Im Alltag der Menschen in Exjugoslawien ist davon aber wenig zu spüren. Um die Nachfolgestaaten Exjugoslawiens endlich wirklich auf EU-Niveau zu bringen, reichen einzelne Maßnahmen wie der Stabilitätspakt und die "Eulex"-Mission nicht aus. Dazu ist ein ganzes Paket von Ideen nötig. Am Ende des Weges sollte für alle Balkanstaaten eine EU-Mitgliedschaft winken.

Zunächst einmal bräuchte die Wirtschaft in Bosnien und Kosovo einen massiven Anschub sowie kräftige Investitionen in die Infrastruktur - in Straßen, Schienenwege und Flughäfen. Genauso wichtig wären aber auch klare Worte an die Adresse der lokalen Politiker. Nur wer seine Arbeit gut macht, wird gefördert - wer nicht kooperiert, dem wird der Geldhahn zugedreht, so sollte die Ansage lauten. Wenn sich keine "lokalen Partner" finden, sollten die EU-Institutionen die Arbeit notfalls allein angehen. Die Bevölkerung soll ihren steigenden Lebensstandard schließlich nicht mit Leuten in Verbindung bringen, die diese Entwicklung in Wirklichkeit sabotiert haben.

Überhaupt sollte die EU in ihren südosteuropäischen Protektoraten weniger mit den dortigen Politikern kommunizieren - und mehr mit Bürgern und deren Verbänden, der viel beschworenen "Zivilgesellschaft". Die EU-Verwaltung muss kritische Stimmen aus der bosnischen und kosovarischen Bevölkerung nicht nur aushalten, sondern aktiv fördern. Dazu gehört die vorbehaltlose Unterstützung freier, professioneller Medien. Auch die Schulen in Bosnien und Kosovo brauchen dringend grundsätzliche Reformen. Es geht nicht an, dass mitten in Europa ein nationalistisches Monopol auf Unterrichtsinhalte besteht. Schulbücher und Lehrer, die einseitige ethnische Sichtweisen vermitteln, haben in den Schulen Bosniens und Kosovos so wenig verloren wie im Rest der EU.

Wenn die EU auf dem Balkan erfolgreich sein will, dann muss sie Bosnien und Kosovo an den Lebensstandard in der Union heranführen. Um den Bürgern Bosniens und des Kosovos die Möglichkeit zu geben, sich selbst ein Bild von den Verheißungen des alltäglichen Lebens in Europa zu machen, braucht es einerseits Programme zum Schüler- und Studentenaustausch, andererseits ist eine Aufhebung der Visapflicht nötig. Ehemalige Flüchtlinge sollten in die Länder reisen können, in denen sie die Kriegsjahre verbracht haben.

Und Serbien? Fortschritt und ein gutes Leben in jenen Staaten Exjugoslawiens, die von der EU verwaltet werden, dürften auch auf die Menschen in Serbien ihre Wirkung nicht verfehlen. Wenn sie erst einmal glaubwürdige Informationen aus bosnischen und kosovarischen Medien beziehen, ganz selbstverständlich dort hergestellte Waren einkaufen und Besucher aus den EU-Mitgliedstaaten nebenan als "Onkel aus Amerika" empfangen und beneidet werden, wird auch in Belgrad ein anderer, europäischer Ton einkehren.