Rüdiger Rossig | Journalist | Novinar

Der Geruch der Leere

Aktuelle Bilder der Kriege erinnern unseren Autor an einen ganz bestimmten Geruch in Kroatien vor 20 Jahren | Von Rüdiger Rossig

Ich trete durch den Türrahmen, und mir stockt der Atem. Als stülpte eine Geisterhand eine unsichtbare Plastiktüte in Mund und Nase. Darin warme, schwere Luft. Sie muss seit Tagen unbewegt hier im Raum stehen.

Über die Nase gelangt die Luft in den Mund und auf die Zunge. Schmeckt süßlich und irgendwie ölig. Mit einem Hauch von verdorbenem Obst. Wie die Birne in der Williams-Christ-Flasche. Aber ohne Alkohol. Ranzig wie alte Butter. Abgestanden wie tagelang getragene Unterwäsche oder lange nicht gelüftetes Bettzeug.

Dieser Geruch kommt mir, wenn ich Bilder aus den Kriegsgebieten Syriens, der Ostukraine oder Afrikas sehe. Nicht der nach Krieg. Der riecht ganz unterschiedlich, mal beißend nach Pulver, mal süßlich nach Blut, mal ätzend nach verwesendem Fleisch. Nachkrieg dagegen riecht für mich immer gleich: nach Menschen, die nicht mehr da sind.

Kroatien im August 1995. Der Krieg im ehemaligen Jugoslawien ist nach vier Jahren fast vorbei.

Wir sind ein Kamerateam des Fernsehens der UN-Friedensmission und sollen uns in dem Landesteil umsehen, der bis vor Kurzem „Serbische Republik Krajina“ hieß.450.000 Menschen lebten hier, bis die kroatische Armee die Region am 4. August 1995 überrannte. Jetzt sind es noch zwischen 130.00 und 150.000.

Die Luft war noch kühl, als wir früh am morgen in Zagreb losfuhren. Das Kriegsgebiet lag keine Stunde von der kroatischen Hauptstadt entfernt hinter dem Ortsende von Karlovac.

Plötzlich ziehen bei 60 Stundenkilometern nicht mehr schmucke zweistöckige Häuser vorbei, sondern Ruinen voller Einschusslöcher und rußgeschwärzter Fensterrahmen ohne Scheiben. In manchen Dörfern sehen die Gebäude noch ganz brauchbar aus. In anderen wachsen Bäumen dort, wo früher das Dach war.

Feucht und stickig

Je näher wir den Bergen an der Grenze zu Bosnien kommen, desto kleiner werden die Siedlungen, die Pflanzen niedriger, das Zirpen der Grillen lauter. Menschen sehen wir nicht. Die Sonne steht hoch am strahlend blauen Himmel, ihr Licht ist gleißend. Irgendwo rechts liegt das Meer.

Das Dorf liegt ein wenig abseits der Landstraße. Man muss ein paar hundert Meter über einen Schotterweg fahren, bis man die Gebäude sieht. Einige wirken weitgehend intakt, andere sind offensichtlich vor Kurzem ausgebrannt. Bei einigen ist nur das Dach beschädigt.

Gekämpft wurde hier offensichtlich nicht. Trotzdem liegt vor vielen Häusern Glas. Wurden die Scheiben eingeschlagen oder hat das das Wetter erledigt? Die Vorhänge jedenfalls hat der Wind auf die Straßenseite geweht. Jetzt, da sich kein Lüftchen regt, hängen sie schlaff in den Fensterrahmen.

Im Haus läuft sofort der Schweiß. Dabei ist es drinnen wahrscheinlich kühler als draußen. Fühlt sich aber nicht so an. Im Gegenteil. Warm. Feucht. Und vor allem stickig. Die Fliegen werden auf uns aufmerksam.

Sind es Hunderte oder Tausende? Die meisten umschwirren den Esstisch und den Kühlschrank, dessen Tür halb geöffnet ist. Auf dem Boden davor die Umrisse einer längst getrockneten Lache. Milch? Kühlflüssigkeit? Beides?

Auf dem Tisch vor dem geschlossenen Fenster – die Gardine ist grau-schwarz vor Fliegen und Fliegendreck – steht ein Teller, darauf etwas, das wohl mal eine Scheibe Brot war. Daneben eine niedrige, henkellose Tasse. Es ist noch ein Schluck türkischer Kaffee darin, darüber zieht sich eine grünliche Schicht Schimmel.

Rechts davon steht ein Aschenbecher, darin eine halb gerauchte Zigarette. Der Raucher hat die Glut abgetrennt. Wie jemand, der später weiterrauchen will. Doch hier ist seit Wochen kein Mensch mehr gewesen.

An jenem Morgen im August 1995, an dem die Operation „Oluja“ (Sturm) begann, rückten kroatische Soldaten von mehreren Punkten gleichzeitig in das Drittel des kroatischen Staatsgebiets ein, das serbische Nationalisten vier Jahre zuvor unter ihre Kontrolle gebracht hatten.

Die teilten den Einwohnern über Radio mit, sie sollten ihre Häuser für ein paar Stunden räumen und sich Richtung Bosnien zurückziehen, bis die Streitkräfte der Serbischen Republik Krajina das Terrain von Feinden gesäubert hatten.

Doch dazu kam es nie. Der serbische Widerstand war nicht nur schwach, sondern auch schlecht koordiniert. Die Kroaten rückten schnell vor. Unter den Menschen, die in ihren Autos, auf Traktoren und Anhängern, Motor- und sogar Fahrrädern entlang der Straßen nahe der bosnischen Grenze auf weitere Anweisungen warteten, machte sich Panik breit.

Niemand weiß, wer der Erste war, der den Motor anwarf und davonfuhr. Sicher ist, dass diejenigen der 180.000 bis 200.000 Flüchtenden, die auf ihrem Weg nach Bosnien über kroatisches Territorium flohen, mit Steinen empfangen wurden; auf dem Weg durch Bosnien gerieten die kilometerlangen Fahrzeugkolonnen unter Beschuss; Hunderte vor allem alte Menschen starben an Dehydrierung.

An der Grenze des Mutterlandes aller Serben schließlich erwarteten die verängstigten, hungrigen, durstigen, in den Jahren der Herrschaft der serbischen Nationalisten verarmten Schwestern und Brüder aus der kroatischen Diaspora Landleute, die Sandwiches und Coca-Cola feilboten. Für 5 Mark pro Flasche und Portion.

Mir ist speiübel, als wir das Haus verlassen. Im Vergleich zur Luft drinnen ist die auf der Dorfstraße jetzt richtig angenehm. Ein Fensterladen bewegt sich wie von Geisterhand, als eine Brise für einen Moment einen Hauch von Frische bringt.

Der Sommer neigt sich dem Ende zu, aber das merkt man nur nachts. Tagsüber ist es heiß, die Luft flimmert vor Hitze.

Dazu zirpt es so laut, dass man die Unmengen von Fliegen, die überall im Dorf herumschwirren, erst hört, wenn die Grillen eine Pause einlegen. Zwischen den Häusern und Ställen haben sich Ameisenstraßen gebildet. Sicher gibt es auch Kakerlaken.

Richtige Tiere sehen wir keine, nicht mal Mäuse, Ratten oder Katzen, die es doch eigentlich in jedem Dorf der Welt gibt. Nirgends bellt ein Hund.

In den von Zäunen oder Mauern umgebenen Gärten hängt nur noch wenig Wäsche. Das meiste davon hat der Wind verteilt. Überall im Ort liegen Hemden, Unterhemden, Socken und Hosen herum. Vieles davon hat begonnen, sich mit Wänden, Autowracks, Traktoren und anderen Geräten, mit Baumstümpfen oder Zäunen zu merkwürdigen Skulpturen zu verbinden.

Manche sehen aus wie Körperteile. Wie auf den Bildern aus den Orten im ukrainischen Donezkbecken, im syrischen Aleppo oder den Ländern Afrikas, in denen der Krieg tobt.

Zurück auf der Landstraße sehen wir Rauchwolken. In einem ebenfalls verlassenen Nachbardorf brennen, schwelen, rauchen einzelne Gebäude. Wer sie angezündet hat?

Salzig und frisch

Die einzigen Menschen, die wir sehen, fahren Autos mit kroatischen Kennzeichen und Anhängern, auf denen Waschmaschinen und Kühlschränke festgezurrt sind. Sie tragen grüne Kleider, die an Uniformen erinnern. Sind es Soldaten? Einheimische, die in ihren Häusern nach dem Rechten schauen? Plünderer?

Als die ersten Palmen am Straßenrand auftauchen, wird es endlich kühler. Je näher wir dem Meer kommen, desto besser riecht die Luft. Salzig. Frisch. Nach Leben.

Text auf taz.de

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