Rüdiger Rossig | Journalist | Novinar

Multikulti als Normalzustand

Eine ethnische Teilung ist keine Lösung für die Probleme des Balkans. Alle bisherigen Apartheids-Versuche haben funktionsfähige soziale Strukturen nur geschwächt und damit Stabilität verhindert | Von Rüdiger Rossig

Seit sich Albaner und Serben in Mitrovica wieder bekämpfen hört man immer öfter: Ein Zusammenleben der Volksgruppen im Kosovo ist nicht mehr möglich. Zu viel Blut sei geflossen, der gegenseitige Hass sitze zu tief, als dass ihn ein westliches "Konzept vom kosmopolitischen Individuum, das sich von Stammesbezügen und religiösen Schranken freigemacht hat" (Sibylle Tönnies, taz vom 14.3.), verdrängen und ersetzen könnte.

Das klingt logisch. Schließlich haben nationale Grenzen in diesem Jahrhundert nicht nur im Westen des alten Kontinents zu langen Perioden des Friedens geführt. Auch vielerorts in Südosteuropa hat nicht etwa Multikulti, sondern ethnische Teilung Stabilität gebracht - und damit dazu beigetragen, Kriege zu verhindern: Seit dem Rückzug des Osmanischen Reiches vom Balkan wurden Millionen Muslime von dort vertrieben; ihre Nachfahren bilden heute einen guten Teil der Bevölkerung der modernen Türkei. Anfang der Zwanzigerjahre tauschten Griechenland und die Türkei Millionen Menschen aus: Christliche Bewohner Kleinasiens mussten auf den Peloponnes, muslimische Bürger Tessalonikis nach Istanbul umziehen. Krieg haben beide Staaten seitdem nicht mehr geführt.

In Bosnien herrschen heute die Cliquen, die von 1991 bis 1995 gegeneinander Krieg geführt haben

Auch die jüngste Entwicklung in Kroatien, wo die "ethnische Säuberung" Jugoslawiens 1991 ihren Anfang nahm, scheint zu belegen, dass die gewaltsame Austreibung der "Fremden" nach einiger Zeit letztendlich doch zu Demokratie, Wohlstand und längerfristiger Stabilität führen kann. Dort haben nach dem Tod des nationalen Übervaters Franjo Tudjman Ende vergangenen Jahres endlich wirklich demokratische Kräfte die Wahlen gewonnen. In Bosnien-Herzegowina schließlich, wo sich 1992 - 1995 Kroaten, Muslime und Serben fürchterlich bekämpften, scheint heute - im fünften Jahr nach dem Dayton-Friedensvertrag - unter multinationaler Anleitung wenn schon kein echter Frieden, so doch zumindest eine Stabilisierung auf niedrigem Niveau erreicht worden zu sein.

Nur: Wie sieht diese Stabilisierung aus? In Bosnien herrschen heute dieselben Cliquen, die Anfang der Neunziger die Tito-Kommunisten gestürzt, dann deren Apparat weitgehend übernommen, sich schließlich mit Kriminellen verbunden und vier Jahre gegeneinander Krieg geführt haben. Die kroatischen, muslimischen und serbischen Nationalisten haben ihr Ziel erreicht: Das Land ist de facto in drei Teile geteilt, jede nationalistische Partei hat ihr Territorium fest unter Kontrolle. Unter ständiger internationaler Beobachtung von UN, OSZE und - vor allem - der Nato-geführten Schutztruppe SFOR haben sich die nationalistischen Seilschaften mittlerweile eine bessere Verkleidung zugelegt: Sie nennen sich jetzt brav "Demokraten", schwören auf Menschenrechte und freie Marktwirtschaft - während ihre jeweiligen Politiker, Militärs, Polizisten und Kriminellen weiter an allen wichtigen Hebeln sitzen und überall kräftig abkassieren. Dabei ist es sicher ein Fortschritt, dass dies mittlerweile in vom Westen gelenkten Bahnen verläuft, statt wie früher mit der Waffe in der Hand. Eine Aufhebung der Herrschaft der sich politisch-ideologisch tarnenden Cliquen und Gangsterbanden aber steht weiterhin aus.

Etwas besser stellt sich die Situation im "ethnisch gesäuberten" Kroatien dar. Doch ob die neue, nicht nationalistische Regierung in Zagreb auch die Macht hat, muss sich erst zeigen. Tudjmans Vasallen hatten zehn Jahre Zeit, ihre strategischen Positionen im kroatischen Staat, in der Wirtschaft und auch in der Gesellschaft des Landes zu befestigen. Wie stark ihre Netzwerke wirklich sind, wird sich vor allem am Widerstand gegen die von der neuen Regierung angekündigte schnelle Rückführung der vertriebenen Serben zeigen.

Dabei bezweifelt in Kroatien mittlerweile kaum mehr ein vernünftiger Mensch, dass die kroatischen Serben wieder ins Land zurückmüssen. Nach fünf Jahren der gescheiterten Wiederaufbauversuche in den ehemals mehrheitlich serbisch bewohnten Gebieten an der Grenze zu Bosnien hat sich gezeigt: Ohne serbische Ingenieure und Verwaltungsfachleute wird es nichts werden mit dem neuen, wohlhabenden, demokratischen Kroatien.

Kroatien steht am Ende seiner erfolgreichen "ethnischen Säuberung" also wieder dort, wo dieser Prozess vor zehn Jahren begonnen hatte: Keines der wirtschaftlich-sozialen Probleme des Landes wurde durch die ethnische Teilung gelöst. Und auch das erwähnte Beispiel der "Bevölkerungsaustausch" genannten ethnischen Säuberung Griechenlands und der Türkei hat nicht nur Frieden gebracht. Ja, selbst die strukturelle wirtschaftliche Schwäche beider Länder hängt mit den nie verheilten Wunden an der gewachsenen Bevölkerungsstruktur zusammen.

Ohne serbische Ingenieure und Verwaltungsfachleute wird es nichts werden mit dem neuen Kroatien

Die Gesellschaften auf dem Balkan entwickeln sich offenbar nicht entlang ethnischer Linien - sie sind vielmehr wie Pflanzen, die man entweder pflegen oder aber durch Entnahme lebenswichtiger Bestandteile abtöten kann. Das gilt verstärkt für das Kosovo. Schon vor dem Krieg wurde die Provinz das "Armenhaus Jugoslawiens" genannt. Die nominell nach wie vor serbische Region ist ohnehin ein zivilisatorischer Nachzügler: Die Kosovaren wurden erst in den Sechzigerjahren alphabetisiert, über eine eigene Universität verfügt die Region seit den Siebzigern. Die seit Beginn der Modernisierung gewachsene soziale Mischung der Bevölkerung wurde in den Jahren des Belgrader Apartheid-Regimes von 1989 bis 1999 nachhaltig gestört: Der "brain drain", der massenhafte Wegzug junger, intelligenter Menschen verursachte einen ständigen Mangel an Fachkräften - auf albanischer wie auf serbischer Seite.

Dabei ist klar: Stabilität und Frieden wird es erst geben, wenn das Kosovo wieder über eine eigene, und vor allem eigenverantwortliche Elite verfügt - über eine Führungsschicht, die nicht weniger aus Politikern als aus Fachkräften aller Bereiche der Wirtschaft und Verwaltung besteht. Eine Elite, die sich vor allem nicht als albanisch oder serbisch, sondern als kosovovarisch definiert. Weder die derzeitige, von der Kosovo-Befreiungsarmee UÇK dominierte albanische Elite, noch ihr serbisches Pendant sind bisher Willens, sich in diese Richtung zu entwickeln.

Wer in dieser Situation den jeweiligen Nationalisten in ihrem Wunsch nach ethnischer Teilung entsprechen will, wird weder Stabilität noch Frieden erreichen. Im Gegenteil: Eine Aufteilung des Kosovo entlang ethnischer Linien würde nur den jeweiligen Politkriminellen nutzen. Menschen, die entlang rationaler, wirtschaftlich-sozialer Kriterien denken und somit in der Lage wären, mittelfristig einen Wiederaufbau der Provinz zu leisten, würden das Kosovo weiter verlassen. Denn in einem halb von der UÇK, halb von serbischen Nationalisten beherrschten Kosovo können sie nicht ihren Vorstellungen entsprechend leben.

Die in westlichen Darstellungen meist verwundert "ethnische Durchmischung" genannte Bevölkerungsstruktur ist auf dem Balkan historisch gewachsen - und untrennbar mit jeder funktionierenden Sozialstruktur verbunden. Wer meint, Multikulturalität sei in Südosteuropa eine künstliche Zielsetzung, verkennt: Es ist der Normalzustand.