Rüdiger Rossig | Journalist | Novinar

Willkommen! Gute Reise!

345.000 Flüchtlinge aus Bosnien waren einmal bei uns. Knapp 100.000 sind noch da. Die andern gingen zurück - in ein zerrissenes, zerstörtes Land. Viele stehen vor dem Nichts. Manche sehen keine andere Möglichkeit, als sich heimlich wieder nach Deutschland durchzuschlagen. Dorthin, wo sie wie die noch Dagebliebenen die Zwangsrückführung fürchten müssen | Von Rüdiger Rossig und Erich Rathfelder

Sabaheta Barjaktarevic kann kaum noch schlafen. "Sie denkt immerzu daran, daß meine Geschwister ganz alleine da unten sind", erklärt ihre Tochter Aida. Auch der 26jährigen steht der Streß der letzten Tage im Gesicht geschrieben: "Am 22. Februar um 6 Uhr schlug jemand bei uns an die Tür und rief: Aufmachen! Polizei!" Vor der Tür standen vier Beamte des Bundesgrenzschutzes in voller Uniform, die Aidas Mutter zu sprechen verlangten.

Doch Sabaheta Barjaktarevic war nicht zu Hause in ihrer Berliner Wohnung - wie so oft, seitdem die 45jährige Bosnierin ihre "Grenzübertrittsbescheinigung" erhalten hat. Das Papier ist der Schrecken der rund 99.000 bosnischen Flüchtlinge, die heute noch in der Bundesrepublik leben. Die "Grenzübertrittsbescheinigung" ist ein Fahrschein ohne Rückkehrmöglichkeit - die Aufhebung der "Duldung" für Kriegsflüchtlinge, und damit die ultimative Aufforderung, Deutschland zu verlassen. Und immer wieder kommt es zu Abschiebaktionen wie der im Falle Barjaktarevic. Die UN-Flüchtlingsorganisation UNHCR in Deutschland hatte sich im vergangenen Jahr mehrmals beim Landeseinwohneramt Berlin für die Familie verwendet - erfolglos.

"Als die Polizisten merkten, daß Mutter wirklich nicht da ist, wurden sie böse", erzählt Aida. Die Beamten forderten die Bosnierin, deren Duldung bis Ende Juni gültig ist, auf, ihre jüngere Schwester Vahida (24) und den 12jährigen Adnan zu wecken. "Wenn wir eure Mutter nicht kriegen, dann nehmen wir eben die beiden mit - so sind wir wenigstens nicht umsonst gekommen, haben sie gesagt." Die Familie durfte weder ihren Anwalt noch ihre Gastgeber - die Berliner "Kirchengemeinde in den Rollbergen" - informieren. Sechs Stunde später meldeten sich die Geschwister vom Flughafen Sarajevo, wo Mitarbeiter des örtlichen UNHCR-Hochkommissariats sich ihrer angenommen hatten.

Nach Berlin gekommen war die Familie im August 1992 aus ihrem Heimatstädtchen Bratunac, nachdem es kampflos von serbischem Militär übernommen und anschließend "ethnisch gesäubert" worden war. Die Familie war ins benachbarte Tuzla geflohen. Doch die Stadt war schon überfüllt und wurde zudem ständig von serbischer Artillerie beschossen. Die Barjaktarevics mußten weiter. Sie gingen nach Deutschland.

Eine Nervenärztin bescheinigte der Mutter nach der Ankunft in Berlin "Depression mit psychischer Dekompensation". Sie leide an "Schlafstörungen, Angst, Alpträumen, Pavor noctarus und Schwitzen" - typische Symptome eines Kriegstraumas. Noch im Dezember 1998 bestätigte die Ärztin diese Diagnose. Ein Berliner Polizeiarzt aber sah das ganz anders: Er bescheinigte der Frau "Flug- und Reisefähigkeit" - eine "dauerhafte, das Persönlichkeitsgefüge und die Alltagsfunktionen schwer beeinträchtigende Traumatiserung" läge nicht vor.

Sabaheta Barjaktarevic ist noch in Deutschland. Untergetaucht. Fatima Sombecki ist wieder hier. Illegal. Auch ihr Schicksal ein Beispiel für viele. Sie wurde im September abgeschoben - zusammen mit ihren 9 und 13 Jahre alten Söhnen. "Auf dem Flughafen von Sarajevo erwarteten uns zwei Mitarbeiter des bosnischen Flüchtlingsministeriums", erzählt sie, "die sagten nur: Willkommen zu Hause - und gute Weiterreise!" Aber die die 32jährige Muslimin aus Brcko im heute serbischen Teil Bosniens wußte nicht, wohin. "Als wir dann aber nach 12 Tagen im Auffanglager von Srednje bei Tuzla gesagt bekamen, wir müßten gehen, um Platz für neu eintreffende Flüchtlinge zu schaffen, habe ich es eben doch versucht", sagt sie.

Tatsächlich schafften es die drei bis Brcko. Wider Erwarten fanden die Muslime sogar ein Zimmer. Zwei Tage später wurde der ältere Sohn von serbischen Jugendlichen blutig geschlagen. "Am Abend kam serbische Polizei zu uns und sagte, sie könne nicht für unsere Sicherheit garantieren." Die Sombeckis flohen erneut, diesmal über die nahe Grenze nach Kroatien, und von dort aus zurück nach Deutschland - illegal und für 500 Mark.

Oft genügt ein Blick, um auf den Straßen Sarajevos festzustellen, wer hier während des Krieges geblieben ist, wer geflohen und jetzt zurückgekehrt ist. Am Gesichtsausdruck, an den Bewegungen, an der Art, sich zu verhalten, lassen sie sich unterscheiden. Die Gebliebenen sind meist ärmlicher gekleidet, aber selbstbewußter. Rückkehrer kompensieren ihre Unsicherheit mit übertrieben lautem Auftreten.

Das ist verständlich. Die Welt, die sie einmal kannten, existiert nicht mehr, die Freunde sind zerstreut, viele Familien sind zerrissen. In die Heimat, an den Ort, von dem sie vertrieben worden sind, können nur jene zurückkehren, die aus den entsprechenden Mehrheitsgebieten stammen. Wer als Muslim nach Sarajevo gehen will, kann dies relativ einfach - wie auch Kroaten ins kroatisch dominierte Lasva-Tal oder Serben in die jetzt serbisch dominierten Gebiete. Die meisten dieser Flüchtlinge aber finden das eigene Haus, die eigene Wohnung zerstört oder ausgeraubt. Oder es wohnen Flüchtlingsfamilien aus anderen Teilen des Landes dort, Menschen, die ein noch schwereres Schicksal zu erleiden hatten. Die Konfrontation der Rückkehrer und der "Hausbesetzer" führt zu Konflikten.

Inzwischen kommen vor allem jene, die aus den Mehrheitsgebieten der jeweils anderen Volksgruppe stammen. Muslime aus dem serbisch okkupierten Ostbosnien haben bis heute kaum eine Chance, in ihre Heimat zurückzukehren. Auch in andere Teile der Republika Srpska trauen sich nur wenige - von 1.921 im Februar dieses Jahres aus Deutschland zurückkehrenden Flüchtlingen wurden nur 132 für den serbisch kontrollierten Teil des Landes registriert. Doch auch die Bürokratie in den muslimischen Gebieten verhindert mit allerlei Tricks die Rückkehr von Serben und Kroaten. Und die kroatischen Radikalen lassen keinen Zweifel daran, daß sie in ihren Gebieten die Rückkehr von Serben und Muslimen verhindern wollen. Im ganzen sind erst 40.000 in die Mehrheitsgebiete der anderen Volksgruppe zurückgekehrt.

Es wird nicht mehr geschossen. Drohungen reichen, um Angst zu machen. So sind die meisten Rückkehrer gezwungen, bei ihrer eigenen Volksgruppe unterzuschlüpfen, eine Wohnung zu finden, Arbeit zu suchen. Und zu warten. Leerstehende Wohnungen gibt es jedoch kaum noch, und wenn, zu horrenden Preisen. Wie soll man eine passende Arbeit finden, wenn 60 Prozent der Bevölkerung arbeitslos sind? Und wenn man eine Schwarzarbeit gefunden hat, dann sind die Löhne so niedrig, daß kaum die Wohnung bezahlbar ist.

1.300 Mark Rückkehrhilfe hat der deutsche Staat bestenfalls pro Familie bezahlt. Wer in Deutschland nicht gespart hat, verliert das meiste schon für die Gebühren, die für allerlei Papiere von der einheimischen Bürokratie erhoben werden. Wer Glück hat, kommt erst einmal bei Familienmitgliedern unter. Die anderen müssen dorthin zurück, wohin sie nie wieder gehen wollten: in eines der zahlreichen Flüchtlingslager.

Natürlich gibt es Hilfsorganisationen und rückkehrbegleitende Maßnahmen. Dafür wird viel Geld aufgewendet. Doch weder das Flüchtlingshilfswerk UNHCR noch die Internationale Organisation für Migration verfügen über Statistiken, welche Lebensumstände die Rückkehrer jetzt im Lande haben. Wenn die vor dem Krieg 110.000 Einwohner zählende Stadt Tuzla später 40.000 Flüchtlinge aufnehmen mußte und allein letztes Jahr 31.000 Rückkehrer, kann man die Schwierigkeiten ermessen.

Die internationalen Projekte helfen nur wenigen. Selbst die Bemühungen des Beauftragten der Bundesregierung für Rückkehr und rückkehrbegleitende Maßnahmen müssen versanden. Es werden zwar Wohnungen gebaut, und Hans Koschnick versucht wie sein Vorgänger Dietmar Schlee, die serbischen Behörden dazu zu bewegen, Rückkehrer aufzunehmen. In der Stadt Kozarac werden mit deutscher Hilfe über 1.000 Häuser instand gesetzt. Doch letztlich ist diese Hilfe nur ein Tropfen auf den heißen Stein.